Ich-Struktur-Test Handbuch

Kapitel 10: Differentielle Validität

Günter Ammon, Gisela Finke, Gerhard Wolfrum

10 Differentielle Validität

10.1 Klinische Gruppe und Normalbevölkerung

Als Vergleichswerte wurden aus der Eichstichprobe die Skalenmittelwerte der Gruppe der unter Fünfzigjährigen (N=600) herangezogen. Mittelwerte, Standardabweichunge, t und p-Werte sind in Tabelle 20 dargestellt.

Tabelle 20: Mittelwerte (X)und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen in der Eichstichprobe (unter 50 Jahre, N = 600) und bei N = 134 Klinikpatienten (Aufnahmewerte)

Tabelle 20: Mittelwerte (X)und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen in der Eichstichprobe (unter 50 Jahre, N = 600) und bei N = 134 Klinikpatienten (Aufnahmewerte)

Bei der Interpretation der Daten ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Klinikgruppe um Patienten mit sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern und Strukturen handelt (s.a. Abschnitt 5.5). Zwischen der Bevölkerung und der Patientengruppe unterscheiden sich die Skalen-Mittelwerte trotzdem im wesentlichen in erwarteter Richtung (vgl. Tabelle 20): Die Klinik-Patienten haben durchgängig in den konstruktiven Skalen niedrigere, und in den destruktiven und defizitären Skalen in der Regel höhere Werte. Ausnahmen bilden hier allerdings die destruktive Aggression und destruktive Sexualität. In beiden Skalen weist die Klinikgruppe niedrigere Werte auf als die vom Alter her vergleichbare gesunde

Bevölkerung. Psychisch Kranke sind — wie auch andere Untersuchungen belegen - nicht destruktiv aggressiver oder gewaltbereiter als die Bevölkerung. Nach unseren Ergebnissen ist eher das Gegenteil der Fall. Psychisch Kranke sind, abgesehen von einer Untergruppe der Delinquenten bzw. sozial devianten Persönlichkeitsstörung (F 60.6 nach ICD ), zumindest in unserer Stichprobe vorrangig psychisch gehemmt. Dafür spricht auch, dass die größten Unterschiede auf den defizitären Skalen auftreten, die - gemäß der Theorie (s. S. 19 ff) - auch die kränkeste, d.h. die am wenigstens entwickelte Struktur repräsentieren. Die destruktiven Anteile haben schon eine gewisse Strukturierung erfahren, es handelt sich bei destruktiver Aggression und destruktiver Sexualität um eine zielgerichtete Form von Aktivität. Ob diese außer Kontrolle gerät i. S. aggresiver Impulshandlungen bzw. Durchbrüche dürfte davon abhängen, in wie weit destruktive Aggression mit konstruktiver oder defizitärer Aggression und auch Angst und Abgrenzung nach außen und innen gepaart ist.

Hier zeigten schon die Korrelationen der ISTA-Skalen untereinander und auch die Faktorenanalyse für die Eichstichprobe und die Klinikgruppe ein unterschiedliches Muster (vgl. S. 73). In der gesunden Bevölkerung korreliert die destruktive Aggression positiv mit konstruktiver Aggression (.42), konstruktiver Angst (.36) und auch allen anderen konstruktiven Ausprägungen. Dies ist in der Patientengruppe nicht der Fall. Die destruktive Aggression korreliert hier nur mit .14 mit der konstruktiven Aggression, und negativ mit der konstruktiven Angst und der konstruktiven Abgrenzung nach außen und nach innen.

10.2 Untergruppen der Eichstichprobe

Abgesehen von den alters- und geschlechtsspezifischen Effekten (vgl. 3.2), die auch als Hinweise auf die differentielle Validität des ISTA gewertet werden können, ergeben sich noch weitere deutliche Effekte.

Psychotherapie und Einahme von Psychopharmaka

Zunächst seien die beiden Variablen betrachtet, die auch von klinisch-psychologischer Relevanz sind, nämlich die Frage nach einer psychotherapeutischen Behandlung und nach psychopharmakologischer Medikation (Tabelle 21).

Der ISTA trennt auf 16 seiner 18 Skalen in der Regel hochsignifikant zwischen Probanden, die sich in einer psychotherapeutischen Behandlung befinden und solchen, die dies nicht sind. Die Psychotherapiepatienten erweisen sich in eindeutiger Weise als die kränkere Gruppe. Ein ähnlich deutlicher Unterschied ergibt sich auch für die Konsumenten von psychopharmakologischen Medikamenten ver- glichen mit Probanden, die angeben, keine Psychopharmaka einzunehmen (Tabelle 22).

Partnersituation

Probanden, die in einer festen Partnerschaft leben, erweisen sich als psychisch gesünder als solche, die keinen festen Partner haben. Ob dies Ursache oder Folge der Partnersituation ist, wäre zu diskutieren. Hingewiesen werden soll auf die Ich-Funktionen der Abgrenzung. Hier zeigen Menschen ohne festen Partner Schwächen in dem Sinne, dass sie über weniger konstruktive Abgrenzung verfügen, sich also in Beziehungen schneller „gefangen“ fühlen können, weil sie ihre Interessen und Bedürfnisse gegenüber dem Partner nicht adäquat vertreten können (Tabelle 23).

Schulabschluß, Beschäftigungssituation und Einkommen

Menschen mit einer höheren Schulbildung als dem Hauptschulabschluß erweisen sich im ISTA als psychisch stabiler (Tabelle 24). Arbeitslose haben im Vergleich zu Personen, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, größere Defizite in der Aggression, Abgrenzung und dem Narzissmus und erhöhte Werte bei destruktiver Angst. Dies spiegelt Anzeichen von Depression wieder, ein Ergebnis, welches auch in Studien zu den psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit gefunden wird (Frese et.al, 1989) (Tabelle 25).

Tabelle 21: Mittelwerte und Standardabweichungen der ISTA-Skalen in der Eichstichprobe bei Probanden, die sich in Psychotherapie befinden (N = 51) und dem Rest (N = 950)

Tabelle 21: Mittelwerte und Standardabweichungen der ISTA-Skalen in der Eichstichprobe bei Probanden, die sich in Psychotherapie befinden (N = 51) und dem Rest (N = 950)

Tabelle 22: Probanden, die in psychopharmakologische Medikamente einnehmen (Pharmaka; N = 76) versus Rest (keine; N = 925)

Tabelle 22: Probanden, die in psychopharmakologische Medikamente einnehmen (Pharmaka; N = 76) versus Rest (keine; N = 925)

Tabelle 23: Partnersituation: Ohne festen Partner (N = 381) versus mit festem Partner (N = 620)

Tabelle 23: Partnersituation: Ohne festen Partner (N = 381) versus mit festem Partner (N = 620)

Tabelle 24: Schulabschluß: Hauptschulabschluß (N = 394) versus höhere Schulabschlüsse (N = 542)

Tabelle 24: Schulabschluß: Hauptschulabschluß (N = 394) versus höhere Schulabschlüsse (N = 542)

Tabelle 25: Beschäftigte (N = 510) versus Arbeitslose (N = 70)

Tabelle 25: Beschäftigte (N = 510) versus Arbeitslose (N = 70)

Tabelle 26: Haushaltsnettoeinkommen unter 1500 (N = 121) versus über 4500 DM/Monat (N = 143)

Tabelle 26: Haushaltsnettoeinkommen unter 1500 (N = 121) versus über 4500 DM/Monat (N = 143)

Die Variable „Haushaltsnettoeinkommen“ zeigt, dass die Ärmsten (Einkommen unter 1500,-/Monat) auch die psychisch Schwächsten sind (Tabelle 26).

Aus den Zusammenhängen zwischen sozio-demographischen Merkmalen und den ISTA-Ergebnissen lassen sich Risikofaktoren für psychische Krankheit ableiten (vgl. Finke, Wolfrum1996, 1997).

Im Sinne der Evaluation des ISTA stellen die Ergebnisse eine Validierung dar. Darüberhinaus werfen sie die Frage auf, inwieweit Persönlichkeitsstruktur durch negative soziale (gruppendynamische) Erfahrungen (Einsamkeit, Armut, schulische und berufliche Misserfolge) beschädigt wird, und inwieweit eine primär strukturell geschwächte Person im Erwachsenenleben hinsichtlich ihrer Beziehungs- und Arbeitsfähigkeit gehandicapt ist.

Alte versus neue Bundesländer

Die Repräsentativ-Erhebung mit dem ISTA fand fünf Jahre nach der „Wiedervereinigung“ statt. Vor dem Hintergrund der Ost-West-Diskussion interessiert die Frage, ob sich zwischen Personen aus den alten und den neuen Bundesländer im ISTA Unterschiede abbilden. Unseres Wissen handelt es sich um die erste Studie, die solche Vergleiche ermöglicht.

Die Mittelwerte in den ISTA-Skalen der beiden Untergruppen (alte BRD, N = 810; ehemalige DDR, N = 191) sind in Tabelle 27 dargestellt. Es zeigen sich auf 10 der 18 Skalen signifikante Unterschiede: Die Probanden aus den neuen Ländern weisen hochsignifikant im Durchschnitt einen höheren Wert bei der defizitären Aggression auf. In der destruktiven Aggression sind die Werte auf Trendniveau erhöht, in der konstruktiven Aggression besteht kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen.

Tabelle 27: Alte (N = 810) versus neue Bundesländer (N = 191)

Tabelle 27: Alte (N = 810) versus neue Bundesländer (N = 191)

Hochsignifikant ist auch der Unterschied auf der Skala der destruktiven Angst. Die Bürger aus den neuen Bundesländern weisen ein höheres Maß an destruktiver Angst auf als die Bürger in den alten Ländern. Auch bei der defizitären Angst zeigt sich ein signifikanter Unterschied, der jedoch nicht so deutlich ausfällt wie bei der destruktiven Angst.

Die konstruktive Abgrenzung nach außen wie nach innen liegt bei den Menschen in der ehemaligen DDR signifikant im Durchschnitt unter den Werten im Westen. Gleichläufig finden wir im Vergleich zu den BRD- Bürgern eine Erhöhung der defizitären Abgrenzung nach innen wie nach außen. Bei den destruktiven Ausprägungen zeigt sich kein Unterschied.

Beim Narzissmus sind sowohl der destruktive als auch der defizitäre Narzissmus in der Gruppe der neuen Bundesländer signifikant höher ausgeprägt, beim konstruktiven Narzissmus besteht kein Unterschied. In der Sexualität zeigt sich in den Mittelwerten in den neuen Bundesländern eine stärkere Ausprägung der defizitären Sexualität; bei nahezu identischen Werten in der konstruktiven und destruktiven Sexualität.

Insgesamt weisen also die Bürger aus den neuen Bundesländern (der ehemaligen DDR) höhere Ausprägungen auf den defizitären Skalen auf, d.h. sie sind in der Aktivität zurückgenommener (Aggression), ängstlicher (destruktive/defizitäre Angst), können sich schlechter nach außen und innen abgrenzen, d.h. aktuell durchsetzen (außen) und sich von der Vergangenheit trennen (innen). Selbstwertprobleme signalisieren die Skalen des destruktiven und defizitären Narzissmus. Diese Besonderheiten sind möglicherweise Ausdruck spezifischer Sozialisationserfahrungen in der Geschichte der DDR, in der insgesamt Eigeninitiative, Individualität, Standpunkt beziehen, Opposition nicht sehr gefördert wurden. Die Ergebnisse bei der Angst und beim Narzissmus können zudem als Folge einer existenziellen Verunsicherung durch die Wende (Arbeitsplatzverluste, Entwertung der bisherigen Existenz) verstanden werden. Tatsächlich finden wir ja auch in den neuen Ländern eine sehr hohe Arbeitslosigkeit, verbunden mit einem niedrigen Haushaltseinkommen - beides Risikofaktoren für psychische Probleme.

Allerdings, muß betont werden, sind die Abweichungen keineswegs als psychopathologisch zu bewerten, sie liegen im Rahmen der „gesunden Varianz‘ und markieren eher einen Lebensstil, ein Temperament oder eine Befindlichkeitstrübung. Dies wird deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass bei Aggression, Angst, Narzissmus und Sexualität das konstruktive Potential durchweg gut ausgeprägt ist. Die konstruktiven Möglichkeiten der Menschen werden allerdings „gebremst“. Dreh- und Angelpunkt dürfte hier die Abgrenzung sein. Eine mangelnde Förderung bis hin zum Verbot von Individualität und damit Identität blockiert andere Potentiale.

10.3 Profile klinischer Gruppen

Der ISTA ist konzipiert als ein Instrument zur Untersuchung der Persönlichkeit im Bereich der zentralen Humanfunktionen mit dem Ziel, den Entwicklungsstand und die Potentiale einer Person — was die erfassten Skalen betrifft - differenziert zu beschreiben. Die Zuordnung eines Patienten zu einer der gebräuchlichen diagnostischen/psychiatrischen Entitäten steht nicht im Vordergrund, spielt aber natürlich in der klinischen Praxis und somit auch bei der Anwendung des ISTA auch eine gewisse Rolle.

Zur diagnostischen Klassifikation der Patientenstichprobe nach ICD-10 s. S. 52f.

  • Patienten mit vorrangig depressiver Syndromatik („Depressive Struktur“).
  • Patienten mit vorrangig psychotischer Syndromatik („Psychotische Struktur“).
  • Patienten mit Persönlichkeitsstörungen vorrangig vom Borderline-Typ (,„Borderline-Struktur“).

Zu ergänzen wären zumindest Patienten mit vorrangig neurotischer Syndromatik (die „neurotische Struktur“), hierzu laufende Untersuchungen aus dem ambulanten Bereich sind noch nicht abgeschlossen.

Zwischen den Diagnosegruppen der depressiven, der schizophrenen und der Borderline-Struktur erbrachten die Vorformen des ISTA in früheren Untersuchungen (vgl. Burbiel & Wagner, 1984; Burbiel et al. 1990) erwartungsgemäß nur vereinzelt statistisch und inhaltlich bedeutsame Differenzen. Die Unterschiede dieser Krankheitsbilder dürften, so die Interpretetation, auch mehr auf der Ebene des Schweregrads der spezifischen krank(machend)en Faktoren angesiedelt sein, sodass die Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur zwischen den Diagnoseklustern fließend ineinander übergehen (Tabelle 21).

Die Ergebnisse bestätigen das formulierte Krankheitsverständnis der Dynamischen Psychiatrie des gleitenden Spektrums von psychischen Störungen und Krankheitsbildern, die fließend ineinander übergehen.

Tabelle 28: Mittelwerte (X) und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen bei den verschiedenen Diagnosegruppen der depressiven, psychotischen und Borderline-Struktur

Tabelle 28: Mittelwerte (X) und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen bei den verschiedenen Diagnosegruppen der depressiven, psychotischen und Borderline-Struktur

10.4 Evaluation von Therapieeffekten

Ein valides klinisches Testinstrument sollte auch Veränderungen im Behandlungsverlauf in der erwarteten Richtung abbilden. Für die Gruppe der 134 Klinikpatienten lagen von 44 Patienten vollständig ausgefüllte Tests für zwei Meßzeitpunkte vor: nämlich Aufnahme (t1) und Behandlungsende (t2). Die durchschnittliche Behandlungsdauer betrug 5,4 Monate.

48 Patienten befanden sich noch in Behandlung, so dass von ihnen noch kein Entlassungswerte vorliegen konnten, 42 Patienten brachen die Behandlung ab, wurden verlegt oder verweigerten eine Abschluß-Testung.

Im Prä-Post-Vergleich verändern sich, bis auf die destruktive Aggression, alle Skalen signifikant und in der erwarteten Richtung (siehe Tabelle 29). Die konstruktiven Anteile nehmen zu, destruktive und defizitäre Ausprägungen nehmen ab. Bei der destruktiven Aggression, die im Mittel gleich bleibt, bestätigt sich die Hypothese, dass sich im therapeutischen Prozess die defizitäre Aggression über das „Durchgangsstadium“ der destruktiven Aggression in konstruktive Aggression „umwandelt“ (vgl. Burbiel & Wagner, 1984; Burbiel et al. 1993). Man könnte auch sagen, dass die destruktive Aggression stärker mit konstruktiven Anteilen verankert und damit regulierter wird. Auch die destruktive Sexualität nimmt diese Entwicklung. In den Skalen zur Sexualität zeigen sich zudem die relativ am wenigsten ausgeprägten Veränderungen; was auch darauf zurückgeführt werden kann, dass die Bearbeitung der Sexualität erst relativ spät im therapeutischen Prozess steht (vgl. S. 22ff) und in der ambulanten psychotherapeutischen Weiterbehandlung vorrangiger wird.

Tabelle 29: Mittelwerte (x) und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen vor und nach der Behandlung

Tabelle 29: Mittelwerte (x) und Standardabweichungen (sd) der ISTA-Skalen vor und nach der Behandlung

Vergleicht man die Mittelwerte von t2 mit den Mittelwerten der Referenzgruppe In der Bevölkerung, so haben sich die Scores angeglichen; in den konstruktiven Bereichen liegen die Werte der Patienten sogar höher.