Ich-Struktur-Test Handbuch

Kapitel 4: Auswertung und Interpretation

Günter Ammon, Gisela Finke, Gerhard Wolfrum

4 Auswertung und Interpretation

4.1 Allgemeine Interpretations-Hinweise

Eine Interpretation der ISTA-Ergebnisse eines Probanden oder Patienten sollte immer durch fachlich geschulte Personen, in der Regel Diplom-Psychologen oder auch die behandelnden Psychotherapeuten, durchgeführt werden, die mit den Grundprinzipien der dem Test zugrunde liegenden Theorie vertraut sind. Dies ist im Interesse der Testperson dringend erforderlich, denn nur bei Kenntnis der dem Test zugrundeliegenden Theorie, des Menschenbildes der Dynamischen Psychiatrie, der Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen und vor allem des gruppendynamisch orientierten Verständnisses menschlicher Entwicklung kann die Bedeutung des jeweiligen Testergebnisses realistisch eingeschätzt werden. Generell hat eine testpsychologische Untersuchung mit dem ISTA nicht das Ziel, einen Menschen zu kategorisieren, sondern sie soll als Hilfe für ein besseres Verständnis der Persönlichkeits-Struktur eines Menschen und seines momentanen psychischen Entwicklungsstandes dienen. Aus diesem Grunde werden im Verlauf einer Behandlung kontinuierlich sowohl mehrere Messungen mit dem ISTA durchgeführt als auch dieser immer in Verbindung mit anderen testpsychologischen Verfahren objektiver wie projektiver Art eingesetzt. Im mehrdimensionalen und ganzheitlichen Behandlungsansatz der Dynamischen Psychiatrie (Ammon, G. 1985b, 1994a, Ammon, M. 1997a, Schmidts 1996) fließen die Testergebnisse bei der stationären Behandlung in die sog. Case-Konferenz ein, die für jeden Patienten unter Beteiligung aller Therapeuten, die mit dem Patienten zu tun haben und unter Berücksichtigung aller bisher vorliegenden Testergebnisse stattfindet (detaillierte Veröffentlichungen hierzu siehe Ammon, Dworschak, Schmolke 1995, Burbiel, Dworschak, Schmolke 1994, Schmolke & Dworschak 1996).

Bei der Interpretation eines Testprofils erachten wir generell nur Abweichungen als bedeutsam, die mindestens eine Standardabweichung von den Mittelwerten der Bezugsgruppe ausmachen. Dabei müssen die Abweichungen entsprechend der inhaltlichen Bedeutung der einzelnen Skalen interpretiert werden.

Von zentraler Bedeutung für die grundsätzliche Interpretierbarkeit und für die Gesamtinterpretation des Tests sind die Werte der Abgrenzung nach innen, die den Zugang zum eignen Unbewussten erfassen. Sind diese in den defizitären Skalen weit überdurchschnittlich, so weist dies daraufhin, dass sich die betreffende Person in einem psychosenahen bis psychotischen Zustand befindet und unter Umständen vom Verlust aller Grenzen bedroht ist, was sich in unsinnigen oder überdurchschnittlich hohen defizitären Werten in den anderen Humanfunktionen zeigen kann. Liegen die Werte in der destruktiven Skalen der Abgrenzung nach innen weit über dem Durchschnitt, hat sich der Mensch starr nach innen verschlossen, wodurch die Werte der anderen Skalen nur mit geringer emotionaler Beteiligung entstanden sind — der Test insgesamt ist damit nur eingeschränkt, wenn überhaupt, interpretierbar. In diesem Fall findet man hier meist überdurchnittlich hoch ausgeprägt konstruktive Qualitäten in den anderen Skalen — ein Hinweis darauf, dass die überstarke Abgrenzung nach innen diesem Menschen nicht erlaubt, Schwächen oder unangenehme Seiten der eigenen Person wahrzunehmen und zuzulassen.

Hier ist auch auf das besonders bei Borderline-Patienten häufig zu beobachtende „Anpassungs-Profil“ zu erwähnen: Innerhalb einer Humanfunktion liegen die Werte der konstruktiven Qualitäten überdurchschnittlich hoch, die destruktiven und defizitären Anteile sind unterdurchschnittlich oder gehen gegen Null. Diese Menschen haben es schwer, Identität und Standpunkt zu zeigen und werden besonders in identitätsanfordernden Situationen versuchen, sich chamäleonartig den vorgestellten Wünschen anderer Menschen anzupassen, so dass diese Menschen nur konstruktiv erscheinen können.

Aufgrund der theorie- und konstruktionsbedingten Interdependenz der Qualitäten der einzelnen Humanfunktionen wird bei ehrlicher Beantwortung der Test-Items ein spezifisches Strukturmuster der Persönlichkeit sichtbar werden, welches in der Regel in sich schlüssig ist. Nur in seltensten Fällen haben wir mit dem Problem bewusster Testverfälschung zu tun — im Gegenteil: Erstens erfreut sich der ISTA bei stationären wie ambulanten Patienten großer Beliebtheit, zum anderen haben die Patienten in der Regel ein großes Interesse daran, Wesentliches über sich und ihre Persönlichkeitsentwicklung zu erfahren. Davon unberührt bleibt natürlich das in der Literatur ausführlich diskutierte Problem der Sozialen Erwünschtheit (Jäger & Petermann 1992).

4.2 Typische Strukturmuster

Auf einige in der klinischen Praxis immer wieder zu beobachtende typische Strukturmuster soll noch aufmerksam gemacht werden:

Bei überdurchschnittlich destruktiven Ausprägungen von Humanfunktionen ist vor allem der Aspekt des Kontaktabbruchs, d.h. der Abbruch von Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zu Aufgaben und zur Umwelt zu berücksichtigen. So kann überdurchschnittlich ausgeprägte destruktive Aggression sowohl aktives Zerstören von Dingen, Wutausbrüche gegenüber anderen Menschen bei nur geringen Anlässen, aber auch den Abbruch des Kontaktes zu sich selbst und damit Selbstbestrafung und die Tendenz zur Autoaggression bedeuten. Überstark ausgeprägte destruktive Angst wäre ein Hinweis darauf, dass der Mensch von Todesangst überflutet wird oder von einer Angst überschwemmt wird, die er mit nichts mehr in Beziehung und nicht mehr relativieren kann. D.h. auch, dass er diese nicht mehr in Kontakt bringen und also auch nicht mehr kommunizieren kann.

Desgleichen lässt sich oft ein Zusammenhang zwischen destruktiver Aggression und destruktiver Angst beobachten: Dabei hat die destruktive Aggression einen Wert um Null, wohingegen die destruktive Angst sehr hoch liegt. Bei Kenntnis der Lebensgeschichte des Patienten kann dies auch als Angst vor der eigenen Aggression verstanden werden.

Eine überdurchschnittlich ausgeprägte defizitäre Angst kann so verstanden werden, dass der Mensch in vielen Situationen, die in der Regel Angst machen, diese Angst nicht wahrnimmt. Dies kann in gravierenden Fällen bedeuten, dass dieser Mensch nie Schutz und Geborgenheit durch andere Menschen erlebt und dementsprechend nie eine konstruktive Angstentwicklung hat aufbauen können. Dementsprechend wird er in realen Gefahrensituationen sich selbst nicht schützen können, weil es nie jemanden gegeben hat, der ihn geschützt hat. Dies kann im ISTA-Profil in Verbindung mit hoher destruktiver Aggression und/oder hoher destruktiver Abgrenzung nach innen als Hinweis auf Selbstentfremdung oder Abspaltung von Gefühlen, unter Umständen sogar auf suizidale Gefährdung hinweisen. Häu- fig findet man unter diesen Konstellationen auch sogenannte Unfäller-Persönlichkeiten d.h. Menschen, die sich immer wieder verletzen und selbst gefährden, weil sie kein Gefühl für sich selbst haben. Auch Hinweise auf Borderline-Kriminalität sind hier im ISTA-Profil zu finden, wobei bei diesen Menschen — im Gegensatz zum Psychosomatiker — die Aggression nach außen und nicht nach innen agiert wird.

Die Humanfunktion des Narzissmus hat im Verständnis der Persönlichkeitstheorie der Dynamischen Psychiatrie eine Art „Pförtnerfunktion“, d.h. die eigene Person wird subjektiv vor dem Hintergrund des eigenen Selbstwertgefühls bewertet. Damit wird die Regulation von Sozialenergie gesteuert, d.h. in welchem Ausmaß ein Mensch Kontakt, Aufmerksamkeit und auch Kritik von anderen Menschen annehmen und auch geben kann. Ein hoher destruktiver Narzissmus wird immer zu einer Erfahrungs-Arretierung und zu Lernstörungen führen, da andere Menschen generell als feindselig erlebt werden und misstrauisch beobachtet werden müssen.

Im Zusammenhang paranoischer Tendenzen als stärkstem Widerstand im therapeutischen Veränderungsprozess ist auch das von Ammon (Ammon & Burbiel 1992) so bezeichnete paranoische Widerstands-Dreieck zu erwähnen. Es ist durch Aggression, Paranoia und schweren pathologischen Narzissmus verbunden mit schwerster Kontaktangst gekennzeichnet und lässt sich im ISTA in hoher destruktiver Aggression, hoher destruktive Angst sowie hohem destruktiven Narzissmus wiederfinden. Eine symptomatologische Bestätigung findet sich meist bei Hinzuziehung der MMPI-Testwerte.

Bei der Interpretation der Sexualitäts-Skalen ist das Entwicklungs-Niveau der anderen zentralen Humanfunktionen zu berücksichtigen: Nur wenn diese auf einem mittleren Entwicklungs-Niveau liegen, kann man davon ausgehen, dass die Werte der Sexualitäts-Skalen auch der Realität entsprechen. Zeigen die anderen Humanfunktionen überwiegend destruktive und besonders defizitäre Qualitäten, können die Ergebnisse der Sexualitäts-Skalen als Wunsch-Phantasien oder als von der Gesamtpersönlichkeit abgespalten verstanden werden. Hier empfiehlt sich eine Befragung des Probanden bzw. Patienten.

4.3 Interpretations-Beispiele aus der Praxis

4.3.1 Fall-Beispiele

Beispiel 1 zeigt das Profil einer 35jährigen, überwiegend psychisch gesunden und beruflich erfolgreichen Diplom-Psychologin. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder im Vorschulalter und ist ebenso wie ihr Mann voll berufstätig. Sie zeigt sich kontaktoffen, scheut nicht vor neuen und angstmachenden Situationen zurück, wirkt nach außen hin selbstsicher und in sich ruhend und ist bei Kollegen sehr beliebt. Bei näherem Kennenlernen entdeckt man einen beträchtlichen beruflichen Ehrgeiz, den sie mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter nicht immer konflikt- und schuldgefühlsfrei in Einklang bringen kann. Sie hat Freunde und eigene Interessen, jedoch manchmal Schwierigkeiten, sich neben dem beruflich noch erfolgreicheren Ehemann behaupten zu können. Nach eigenen Angaben leidet sie weder unter Symptomen noch gravierenden Problemen, die eine therapeutische Behandlung notwendig machen würden, sondern fühlt sich insgesamt mit ihrer Lebenssituation überwiegend zufrieden.

Der ISTA zeigt Werte überwiegend im Normbereich, bei einem Überwiegen der konstruktiven über die destruktiven und defizitären Qualitäten - ausgenommen die Abgrenzung nach außen und etwas geringer auch nach innen sowie beim Narzissmus: Hier fallen die vergleichsweise höheren defizitären Qualitäten auf, vor allem bei der Abgrenzung nach außen. Diese lassen vermuten, dass die Person oft Schwierigkeiten hat, sich nach außen gegenüber anderen Menschen abzugrenzen, Nein zu sagen und einen eigenen Standpunkt zu behaupten, obgleich sie sich in Aggression und Angst durchsetzungsfähig und belastbar zeigt. Dies könnte zu einen erklärt werden durch eine gewisse „Ich-Schwäche“ im Hinblick auf Inhalte des Unbewussten, die sie vielleicht gelegentlich verunsichern, zum anderen mit gewissen Selbstunsicherheiten, die sie vielleicht mit Überkonstruktivität in der Aggression überspielen muß. Die hohe und flexible Abgrenzung nach innen lässt eine gesunde Traumfähigkeit vermuten, auch das Profil der Sexualität als eher übergeordnete Struktur zeigt sich gesund. Insgesamt gesehen kann anhand dieses überwiegend „gesunden ISTA-Profils“ von einer überwiegend gesunden Persönlichkeit-Struktur mit eigentlich keinem therapeutischem Handlungsbedarf ausgegangen werden.

Beispiel 1: gesunde Persönlichkeit

Beispiel 1: gesunde Persönlichkeit

Beispiel 2 zeigt das Profil einer neurotisch strukturierten Patientin (siehe auch Verlaufsbeschreibung aus dem ambulanten Bereich). Es handelt sich um eine 45jährigen ambulante Patientin, die mit einer schweren neurotischen Depression in.die Behandlung kam. Von Beruf Lehrerin, allein lebend und nur mit minimaler sexueller Erfahrung, konnte sie sich kaum in der Schule behaupten, hatte Schwierigkeiten mit den Kollegen und vor allem den Vorgesetzten. In den Gruppentherapie wurde sie als „graue Maus“ meist übersehen, konnte sich nur artikulieren, wenn man sie ansprach, verhielt sich immer korrekt und angepasst und zeichnete sich durch weitgehende Bescheidenheit, Kontaktängstlichkeit und vor allem Bedürfnislosigkeit aus. Aus einem schwäbischen Dorf stammend war ihr Leben vorwiegend durch „Sparsamkeit“ in jeder Hinsicht gekennzeichnet - dass sie sich eine analytische Behandlung gestatten konnte, grenzte an ein Wunder und war nur durch ihren erheblichen Leidensdruck plausibel.

Das ISTA-Profil zeichnet sich insgesamt durch eine „Linksverschiebung“ in den unteren T-Wert-Bereich auf - so wie die Patientin „psychisch verhungert“ in die Therapie kam, reichen die Werte kaum bis in den Normbereich der Mitte. Es fallen auf die vergleichsweise hohe destruktive Aggression - die in Verbindung mit den sehr niedrigen konstruktiven Qualitäten von Aggression, Narzissmus und Sexualität dem extremen Lebensverbot der Patientin entspricht — die relative Abgrenzungsschwäche entsprechend fehlendem Standpunkt, der defizitäre Narzissmus sowie die destruktiv/defizitäre Sexualität mit dem Defizit als höchstem Wert insgesamt entsprechend dem Ausmaß ihres ungelebten Lebens. Das Profil zeigt eine konstruktiv wenig bis durchschnittlich entwickelte Ich-Struktur mit hoher Destruktion bei Aggression und Sexualität und Defiziten bei der Abgrenzung nach außen, dem Narzissmus und vor allem der Sexualität. Das Umgehen mit Angst und eine gewisse Abgrenzungsfähigkeit scheinen der Patientin zu gelingen, insgesamt jedoch zeigt sie sich in ihren Entwicklungsmöglichkeiten deutlich reduziert bzw. arretiert, wie der weitere therapeutische Prozess (siehe Verlauf) gezeigt hat.

Beispiel 2: Neurotische Struktur

Beispiel 2: Neurotische Struktur

Beispiel 3 zeigt das ISTA-Profil eines 30jährigen Borderline-Patienten aus einer ambulanten Gruppenpsychotherapie. Die Problematik dieses beruflich mehr oder weniger erfolgreichen Patienten - er arbeitet nach einer handwerklichen Lehre und einem Aufbaustudium jetzt im sozialen Bereich - äußert sich in erster Linie in seiner ödipalen Unterwerfungs-Dynamik, der damit verbundenen weitgehenden Abgrenzungs-Unfähigkeit und vor allem im Fehlen jeglicher direkter destruktiver Äußerungen im Sinne der Durchsetzung eigener Wünsche und Bedürfnisse. Nach außen hin zeigt sich der Patient angepasst, erst im direkteren Kontakt wird die passive Aggression, der Leidensdruck des Patienten und die daraus resultierende Therapiemotivation spürbar. Der Patient hat mittlerweile seine langjährige Lebensgefährtin geheiratet und erfreut sich eines mäßig positiven Sexual- lebens. An seiner Arbeitsstelle überträgt er immer wieder seine Vaterproblematik auf den Chef, was zu erheblichen Beeinträchtigungen der Zusammenarbeit führt. Mit einer kreativen Begabung hat der Patient sich in der Malerei mittlerweile einen konfliktfreien Bereich geschaffen, der sein Selbstwertgefühl und das Vertrauen zu sich selbst stärkt.

Der ISTA fällt durch weitgehendes Fehlen destruktiver Qualitäten auf (Aggression, Abgrenzung, Narzissmus, Sexualität) - mit Ausnahme der destruktiven Angst. Diese wird verständlich als Folge seiner inneren und äußeren Unfreiheit und Standpunktlosigkeit, resultierend aus der überdurchschnittlich hohen defizitären Abgrenzung nach außen, die sein Ausgeliefertsein an seine Umwelt, den fehlenden Standpunkt und die damit verbundene Entwicklung-Arretierung deutlich werden lässt. Dementsprechend hoch sind auch die defizitären Qualitäten in Aggression, Angst, Narzissmus und Sexualität, was sich symptomatisch als depressive Tendenz, passive Aggression, fehlendem Selbstwertgefühl und eher geringer sexueller Aktivität niederschlägt.

Im Vergleich zu Beispiel 1 liegen hier die konstruktiven Qualitäten zwar im Normbereich, aber insgesamt niedriger, die destruktiven entweder extrem hoch (Angst) oder nahe Null. Die sehr viel höheren defizitären Qualitäten indizieren die Behandlungsbedürftigkeit mit einer untergründigen Depression, massiven Abgrenzungsschwäche, brüchigem Selbstwertgefühl und konflikthafter Sexualität.

Beispiel 3: Borderline-Struktur

Beispiel 3: Borderline-Struktur

Beispiel 4 zeigt das ISTA-Profil einer 30jährigen Verwaltungsangestellten, die aus einer ambulanten orthodoxen Einzelanalyse kommend sich in die Ambulanz der Klinik Menterschwaige mit der Bitte um stationäre Aufnahme vorgestellt hatte. Im Erstgespräch gab sie an, aufgrund der drei mal wöchentlich stattfindenden analytischen Sitzungen immer mehr in „regressive Zustände“ zu geraten, in der Realität zunehmend zu versagen und jeglichen Halt und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nach dem Tod des Vaters und mehreren gescheiterten Partnerbeziehungen hatte sie in verschiedensten Branchen gejobbt, sich auch im Ausland versucht und war schließlich dank der Beziehung zu einer Freundin in München „hängen geblieben“. Der unmittelbar nach dem Erstgespräch durchgeführte ISTA zeigte die eklatanten strukturellen Defizite der Patientin, vor allem die massive Abgrenzungs-Schwäche, die ein „Überleben“ auf Dauer in der Realität eigentlich kaum erlauben. Das Profil unterscheidet sich aufgrund der erheblich größeren Defizite grundsätzlich von Beispiel 3 und konnte mit als Entscheidungshilfe für die Aufnahme in die stationäre Therapie herangezogen werden.

Im Gegensatz zum Profil der ambulanten Patienten liegen alle defizitären Qualitäten außerhalb des Normbereichs und können wohl kaum von den wenig bis durchschnittlich konstruktiv entwickelten Qualitäten ausgeglichen werden. Besonders deutlich wird die massive Abgrenzungsschwäche der Patientin: Die destruktiven Qualitäten sind weit unterdurchschnittlich, was besagt, dass der Patientin auch die Möglichkeiten einer starren Abgrenzung fehlen. Die überwiegend defizitäre Aggression - immer ein Hinweis auf Depression - lässt in Verbindung mit dem destruktiv-defizitären Narzissmus die hohe destruktive Angst verständlich werden - eine gespürte, kontakt- und handlungsverbietende Angst, die überflutend und damit lähmend erlebt wird. Insgesamt gesehen eine überwiegend defizitär/destruktive Struktur mit hoher Therapiebedürftigkeit.

Beispiel 4: Borderline-Struktur

Beispiel 4: Borderline-Struktur

Beispiel 5 zeigt das ISTA-Profil einer 47jährigen Patientin aus der stationären Behandlung mit einer narzisstischen Depression, entsprechend dem Krankheitsverständnis der Dynamischen Psychiatrie also einer narzisstisch-depressiven Struktur. Die Patientin hatte sich lange Zeit in einer kirchlichen Institution in tiefster Provinz als inoffizielle Hauswirtschaftsleiterin mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Immer wieder mußte sie für die manisch-depressive Mutter einspringen, wenn diese wieder einmal in die Landesnervenklinik eingewiesen wurde. Als älteste der vier Geschwister mußte sie den Vater, das bäuerliche Anwesen und die Geschwister versorgen, fühlte sich dadurch einerseits aufgewertet, konnte aber andererseits nie ihre massive Eifersucht auf die jüngeren Geschwister artikulieren und bewältigen. Diese wurden von Vater unterstützt, konnten sich beruflich entwickeln, heirateten allesamt und bekamen Kinder und bauten sich außerhalb des Elternhauses eigene Existenzen auf. Unsere Patientin blieb dem Elternhaus treu, verschmähte aus Wut und Enttäuschung den vom Vater zugewiesenen Partner, der ihr durchaus gefallen hätte, blieb dem Elternhaus treu ohne sich eine eigene Partnerschaft oder Kinder zu gestatten und entwickelte sich mehr und mehr zur „alten Jungfer“. Mit dem Tod der Eltern wurde ihre bisherige Ersatzidentität hinfällig, die Geschwister zeigten für die älteste Schwester keinerlei Verständnis, sondern versuchten sie weiterhin auszubeuten, auch die kirchliche Institution konnte sie nicht mehr tragen. Erst jetzt wurde sie sich ihrer Lage bewusst, verfiel in schwere Depressionen und bewarb sich in unserer Klinik um Aufnahme.

Auffallend sind an diesen ISTA-Profil die „Rechtsverschiebung“ in den oberen T-Werte-Bereich mit weit überdurchschnittlich hohen Defizite in allen Humanfunktionen, die überdurchschnittlichen destruktiven Qualitäten in fast allen Funktionen, die auffallend niedrigen konstruktiven Qualitäten bei Angst und Abgrenzung sowie der weit überdurchschnittliche destruktive Narzissmus als höchste Qualität im destruktiven Bereich. Von den konstruktiven Qualitäten bewegt sich nur die Aggression im Mittelfeld - in geschütztem Rahmen kann die Patientin durchaus etwas leisten — bereits die Sexualität liegt an der unteren Normgrenze, alle anderen konstruktiven Qualitäten sind weit unterdurchschnittlich. Insgesamt also ein Profil, was auf sehr wenig Strukturaufbau schließen lässt, eine defizitär-destruktive Familiendynamik mit wenig sozialenergetischer Unterstützung vermuten lässt. Der hohe destruktive Narzissmus lässt sogar auf destruktive Verweigerung von Sozialenergie und paranoische Symptomatik schließen, wie dies der MMPI schließlich bestätigt hat. Der destruktive Narzissmus entpuppte sich im Laufe der Behandlung tatsächlich als Dreh- und Angelpunkt der Behandlung - hinter dem strukturellen Defizit und der paranoische Symptomatik verbarg sich eine hohe destruktive Aggression mit massiver Verlassenheitsangst von psychotischer Qualität, weshalb die Patientin zeitweise auch medikamentös gestützt werden mußte und über lange Zeit kaum in der Lage war, zwischenmenschliche Energie anzunehmen und damit Kontakte und Entwicklungsmöglichkeiten aufzubauen.

Beispiel 5: Narzisstisch-depressive Struktur

Beispiel 5: Narzisstisch-depressive Struktur

Beispiel 5: MMPI Narzisstisch-depressive Struktur

Beispiel 5: MMPI Narzisstisch-depressive Struktur

Beispiel 6 zeigt das Profil eines 32jährigen psychotisch strukturierten Patienten aus der stationären Therapie mit ebenfalls massiven Defiziten und gering ausgeprägten Konstruktiv-Qualitäten. Der Patient wurde auffällig durch sexuell destruktives und aggressives Agieren und darausfolgender häufigerer Straffälligkeit und kam darüber zur stationären Therapie. Er wurde aufgenommen mit Symptomen hochgradiger Ambivalenz, Autismus, Stereotypien, Grimassieren, Inkohärenz des Gedankenganges bis zur Gedanken-Ausbreitung und tiefer Ratlosigkeit und schweren paranoiden Verfolgungsideen. Er war als jüngster von zehn Geschwistern nach dem fast zeitgleichen Tod der Eltern zuerst sexuell vom ältesten Bruder missbraucht, schließlich in eine benachbarte Großfamilie abgeschoben und dort vom Familienvater ebenfalls sexuell missbraucht und drogenabhängig gemacht worden. Eine abgeschlossene Berufsausbildung schaffte er mangels Unterstützung seines Umfeldes und wiederholter psychiatrischer Klinikaufenthalte nicht, erst zu einem späteren Zeitpunkt den qualifizierten Hauptschulabschluß. Die einzig bekannten konstruktiven Bereich des Patienten lagen in seinen handwerklichen Fähigkeiten und einer hohen Präferenz für alles, was mit Fahrrädern und dem Fahrradfahren zu tun hat. Auffallend an diesem überwiegend defizitär-destruktiven ISTA-Profil ist die scheinbar gesündere Struktur der Sexualität - die konstruktive Qualität ist stärker ausgeprägt als die defizitäre, die Skalen liegen im Normbereich. Alle anderen Humanfunktionen zeigen extreme Abweichungen und damit die hohe Entwicklungs-Arretierung und Therapiebedürftigkeit des Patienten. Das eher gesündere Profil der Sexualitätsskalen lässt dementsprechend auf eine Abspaltung der Sexualität schließen, darauf, dass sexuelles Agieren dem Patienten vielleicht als einzige und damit pathologische Kontaktbrücke zur Verfügung steht. Interessant ist auch, dass im ISTA die „Perversion“ als Symptomverhalten nicht sichtbar wird und auch nicht werden kann, da der ISTA Struktur erfasst. Deutlich sichtbar sind jedoch die massiven Defizite in allen anderen Humanfunktionen, aufgrund deren ein gesundes Sexualleben derzeit unmöglich wäre.

Noch einmal soll an dieser Stelle auf den Stellenwert der Sexualitäts-Skalen hingewiesen werden: Da es bei der stationären Therapie schwerer psychiatrischer Krankheitsbilder um eine „nachholende Entwicklung“ und einen grundlegenden Ich-Aufbau gehen muß, spielen in der Anfangsphase der Therapie die Werte dieser Skalen eher eine untergeordnete Rolle. Dies ändert sich mit fortschreitender Entwicklung des Patienten und ganz besonders natürlich im ambulanten Bereich: Im Bereich von Borderline-Therapien und neurotischer Störungen sind die Werte der Sexualitäts-Skalen von hoher Relevanz.

Beispiel 6: Psychotische Struktur

Beispiel 6: Psychotische Struktur

4.3.2 Verlaufs-Beispiele

Beispiel 7 zeigt den Verlauf der im Beispiel 2 als neurotische Struktur dargestellten Patientin. Sie kam mit einer schweren neurotischen Depression in die Behandlung, klagte über depressive und symptomatische Symptome, Einsamkeit, innere Leere und ihre schier nicht endenwollende Partnerlosigkeit über die besten Jahre ihres Lebens hinweg. Während sie anfangs als „graue Maus“ lange Zeit unauffällig im Gruppenprozess „mitschwamm“, immer wieder übersehen zu werden drohte, konnte sie nach und nach mehr Kontakt- und Auseinandersetzungsfähigkeit aufbauen und sich stärker in den Gruppenprozess einbringen. Eine zusätzliche parallele Einzeltherapie verlieh ihr mehr Sicherheit, sie begann sich auch mit den Leitern auseinanderzusetzen - vermehrt wurden die destruktive Aggression und das Lebensverbot ihrer Familiengeschichte sichtbar. Schließlich überraschte sie Gruppe und Therapeuten mit der Mitteilung einer Partnerschaft und gelebter Sexualität, welche zwar wieder zusammenbrach, aber einer neuen und konstruktiveren Beziehung Platz machte.

Die Testwerte im ISTA können im Verlauf nur für die beiden letzten Jahre wiedergegeben werden, da die früheren Werte mit der alten ISTA-Fassung nicht direkt vergleichbar sind. Dennoch kann zum Verständnis des ISTA-Verlaufs daraufhingewiesen werden, dass die konstruktiven Qualitäten in Aggression, Angst und Narzissmus über vier Jahre kontinuierlich angewachsen sind, die destruktiven Qualitäten in den genannten Humanfunktionen abgenommen haben. Die destruktive Aggression pendelt in einem mittleren Bereich von T = 48 bis T = 58, die destruktiven Qualitäten von Angst und Narzissmus nehmen Tast kontinuierlich ab. Die Abgrenzung nach außen war anfangs eher zu offen, die nach innen im Normalbereich stabil. Die Veränderung aller sechs Humanfunktionen in den beiden letzten Jahren zeigt.

Beispiel 7: Neurotische Struktur Verlauf

Beispiel 7: Neurotische Struktur Verlauf

Beispiel 8 beschreibt den Verlauf einer 26jährigen Studentin, die mit zunehmender anorektischer Symptomatik aus einer ambulanten Psychotherapie um Aufnahme in unsere Klinik Menterschwaige bat. Sie litt zunehmend unter Panikzuständen und Todesangst, psychosomatischen Symptomen mit EBstörungen, Übelkeit und Erbrechen, Herzschmerzen, Beklemmungsgefühlen und starken Depressionen. Die Symptomatik hatte sich nach dem letzten Urlaub mit dem Ehemann verstärkt und obgleich sie mit diesem seit einem Jahr zusammenlebte, konnte sie mit ihm keinerlei Sexualität leben - als Äußerstes an Nähe duldete die Patientin, dass der Ehemann ihr die Hand auf das Knie legte. Durch die ambulante Psychotherapie hatten sich zwar die Angstzustände gebessert, aber sozial hatte die Patientin sich zunehmend isoliert und zuletzt völlig zurückgezogen. Nach dem Abbruch des Medizinstudiums im sechsten Semester hatte sie nun auch die Ausbildung zur Beamtin abgebrochen. Als Älteste von vier Geschwistern litt sie bereits seit früher Kindheit unter starken Verlassenheitsängsten, häufigen Grenzverletzungen in einer sexualisierten Familienatmosphäre, es bestand der Verdacht sexuellen Missbrauchs durch den Vater. Diagnostisch wurde sie als Anorexia nervosa (ICD 10: F 50.0) und rezidivierende depressive Störung (F 33.1) aufgenommen.

Ohne hier näher auf das Krankheitsbild der Anorexia nervosa einzugehen zu wollen, sei nur soweit darauf hingewiesen, dass die weibliche anorektische Reaktion entsprechend dem Krankheitsverständnis der Dynamischen Psychiatrie als im Schnittpunkt von Depression, Psychosomatik und schizophrener Reaktion stehend verstanden wird (Wallenberg Pachaly in: Ammon (Hrsg.) 1982). Im Aufnahme-ISTA zeigt die Patientin hohe Defizite in Aggression, Abgrenzung nach außen und innen, dem Narzissmus und der Sexualität, darüber hinaus hohe destruktive Werte in der Abgrenzung außen und der destruktiven Angst. Der Aufnahme-MMPI zeigt stark überhöhte Werte in Hypochondtrie, Depression, Hysterie und Psychopathie, mäßige Erhöhung in Schizoidie, Manie und sozialer Introversion. Der Aufnahme-GT vor allem eine depressive und retentive Selbsteinschätzung, der SCL9O-R eine überdurchschnittlich hohe psychische Belastung vor allem in Somatisierungstendenz, Depression, Ängstlichkeit und Psychotizismus.

Im Verlauf der Behandlung (nach etwa vier Monaten) zeigt die Patientin im ISTA eine beträchtliche Zunahme in den konstruktiven Qualitäten von Aggression und Angst, eine geringere Zunahme in den konstruktiven Qualitäten von Abgrenzung und Narzissmus bei gleichzeitigem Rückgang der jeweiligen destruktiven und defizitären Qualitäten. Die Werte in den Sexualitätsskalen bleiben unverändert. Der Verlaufs-MMPI zeigt überwiegenden Rückgang an Symptomatik (HS, D, HY, PD, MA und SI) bei gleichzeitiger Zunahme von PA und PT sowie der Validitäts-Skala F. Im Verlaufs-Gießen-Test zeigt sich eine Veränderung des Selbstbildes mit einem Rückgang in den Skalen NR und DE, einer Zunahme von RE und IP sowie eine Annäherung an den Mittelbereich bei den Antworttendenzen M und E, der SCL90-R einen Rückgang in den eingangs überhöhten Werten, ausgenommen der Ängstlichkeit, welche deutlich ansteigt, ebenso wie der Unsicherheit, Aggression und Paranoia.

Die Entlassungs-Tests der Patientin zeigen insgesamt einen deutlichen Struktur-Gewinn im ISTA, im MMPI eine massive Abnahme nahezu aller Symptom-Skalen in den Normalbereich, im GT ein positiv verändertes Selbstbild und im SCL-90-R ebenfalls eine Annäherung an den Durchschnittsbereich mit jetzt nur noch leichten Überhöhungen bei Somatisierung und Angst.

Im ISTA zeigt sich dieser Strukturgewinn durch einen insgesamt deutlichen Anstieg der konstruktiven Qualitäten von Aggression, Angst und Abgrenzung sowie geringfügiger, aber auch beachtlich Zunahme bei Narzissmus und Sexualität. Mit Ausnahme der Sexualität reduzieren sich alle Skalenwerte in den destruktiven Qualitäten sowie in unterschiedlichem, aber beachtlichem Ausmaß auch in den defizitären Skalen-Qualitäten. Am wenigsten entwickelt stellt sich bei Entlassung die Humanfunktion der Sexualität dar, hier muß weitere Arbeit einer ambulanten Therapie vorbehalten bleiben.

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt zeigen ausführliche testpsychologische Studien aus unserer Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige zur Effizienz und Katamnestik von psychotisch strukturierten, narzisstisch depressiv strukturierte Patienten und von Borderline-Patienten (Burbiel et al. 1984, 1989, 1990, 1992, 1993, 1994) im Verlauf der stationären Behandlung als Gesamtgruppen eine statistisch gesicherte Abnahme in allen defizitären Qualitäten des ISTA (mit Ausnahme der Sexualitätsskalen, die damals noch nicht entwickelt waren), eine statistisch gesicherte Abnahme in allen destruktiven Qualitäten - mit Ausnahme der destruktiven Aggression - sowie eine statistisch gesicherte Zunahme in allen konstruktiven Qualitäten des ISTA. Mit diesem

Prozess einher ging ein statistisch gesicherter Rückgang an Symptomatologie, gemessen in MMPI und Gießen-Test sowie anderen Verfahren. Im Sinne einer Wechselwirkung werden offensichtlich Defizite im therapeutischen Prozess zugunsten eines Zuwachses an Destruktion abgebaut. Erst nach therapeutischer Durcharbeitung der Destruktion scheinen sich konstruktive Qualitäten aufzubauen. Eine Ausnahme für den klinisch-stationären Bereich bildet die destruktive Aggression: Sie bleibt während des Behandlungsverlaufs rechnerisch im Durchschnitt gleich - man könnte vermuten, dass es sich um den Dreh- und Angelpunkt von Entwicklung schlechthin und die Aufhebung vorhandener Arretierung handelt. Erst im ambulanten Therapiebereich nimmt auch die destruktive Aggression zugunsten der konstruktiven Qualität ab. Diese Ergebnisse konnten für den Behandlungsverlauf im der Klinik Menterschwaige statistisch gesichert werden und blieben bei anschließender ambulanter Nachbehandlung auch außerhalb des stationären Feldes stabil (s. hierzu Burbiel et al. 1989, 1990, 1992, 1993, 1994).

Beispiel 8: Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: MMPI Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: MMPI Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: GT Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: GT Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: SCL-90-R Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

Beispiel 8: SCL-90-R Borderline-Struktur mit Anorexia und Depression Verlauf

4.4 Differenzierung von Diagnosegruppen

Die bisherigen Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen des ISTA und die Beispiele aus der Praxis sollen zeigen, dass das eigentlich Psychische der Beziehungsprozess ist, der Niederschlag dieses Beziehungsprozesses die psychische Struktur. „Psychische Struktur wird erfasst im Sinne von sich äußernden Ich-Funktionen, zentral unter der Ich-Funktion der Identität: Die sogenannten psychiatrischen Krankheiten sind daher im eigentlichen Sinne Identitätskrankheiten‘“ (Ammon 1978). Dem Spektrum psychischer Erkrankungen steht also das Spektrum mehr oder weniger entwickelter Humanstrukturen und Funktionen gegenüber, für deren nosologische Differenzierung dementsprechend eine Erfassung intakter und defekter Humanstrukturen entscheidend ist.

Entsprechend Ammons Spektraltheorie des gleitenden Spektrums von Gesundheit und psychischer Erkrankung lassen sich — im Gegensatz zur Zeller-Griesinger‘schen Auffassung der Einheitspsychose oder zu Karl Menningers „Stufen der Organisationsstörung“ — archaische Ich-Krankheiten auf einem Spektrum von narzisstischer Depression, schizophrener bzw. psychotischer Struktur, Borderline-Struktur, neurotischer Struktur bis zur sog. gesunden Struktur im Sinne zunehmender Integration der Persönlichkeit anordnen (Ammon 1976, 1979a, Menninger 1963). Phänomenologische Erscheinungen wie Zwang, Sucht oder Psychosomatik sind auf ihren Stellenwert in der Persönlichkeitsstruktur hin zu untersuchen, denn sie können einerseits Psychosecharakter haben, wobei das Symptom dann die Persönlichkeit aufgrund übergroßer Defizite stabilisieren und psychotische Dekompensation verhindern muss. Symptomatik kann andererseits aber auch funktionellen Charakter haben, wie z.B. beim Borderline-Syndrom, wo diese wechselnd und oft stellvertretend für andere Abwehroperationen steht. Dabei werden Symptome in der Dynamischen Psychiatrie nicht als Ausdruck einer individuellen Krankheit verstanden, sondern als Ausdruck eines kommunikativen Geschehens, „in dem sich Ich-Struktur, verinnerlichte Gruppendynamik, aktuelle Gruppendynamik und Psychodynamik der beteiligten Personen zu einer Handlung zusammenfügen“ (Rock in Ammon 1979a, S. 804). Die Ich- und Identitäts-Entwicklung steht dabei im Mittelpunkt des Interesses, „weil auf der Ebene des Ich alle Faktoren des multidimensionalen Krankheitsgeschehens erfahren und auch in Verhalten umgesetzt werden“ (Rock a.a.O.). „Störungen des interpersonellen Geschehens in der Symbiose, in der das Kind seine Ich-Funktionen der konstruktiven Aggression und Kreativität entdeckt, und in dem schützenden Rahmen der Symbiose entwickelt und erprobt, führen zu psychopathologischen Syndromen“ (Ammon 1979a, S. 801).

Alle schweren psychiatrischen Ich-Krankheiten sind dementsprechend als Reaktionsformen auf eine solche Störung im Aufbau der Ich-Grenze bzw. der daran beteiligten Ich-Funktionen zu verstehen. Allgemein können sie als Manifestationen einer pathologischen Arretierung der Ich- und Identitätsentwicklung auf präödipaler Ebene aufgefasst werden.

Die Interpretation eines ISTA-Profiles allein kann und will nicht in erster Linie nosologische Klassifikationen im üblichen klassisch-psychiatrischen Sinne liefern, sondern eine differenzierte Beschreibung über den momentanen Entwicklungsstand des einzelnen ermöglichen im Hinblick auf Defizite, vorhandene Destruktion und das Ausmaß an entwickelter, konstruktiver Struktur. Hier gibt es allerdings

Hinweise auf typische Struktur-Muster:

  1. Die gesunde Persönlichkeit wird sich im ISTA-Profil generell auszeichnen durch ein Überwiegen aller konstruktiven über die destruktiven und defizitären Qualitäten der einzelnen Humanfunktionen, das Gesamtprofil wird weitgehend im Normbereich liegen.

  2. Eine neurotische Struktur wird je nach Ausmaß der stattgefundenen Verdrängung in einzelnen Funktionen Störungen deutlich werden lassen, vor allem in der Aggression und besonders der Sexualität, jedoch insgesamt über ein weitgehend „intaktes Ich‘ mit wenig schwerwiegenden Defiziten und weitgehend stabilen Ich-Grenzen verfügen. Auch werden gesamt gesehen die konstruktiven über die destruktiven und defizitären Qualitäten dominieren, wobei auch eine Verschiebung des Gesamtprofils „nach links“, also in den unteren T-Wertebereich zu beobachten ist.

  3. Die Borderline-Struktur zeigt sich entsprechend der Vielfalt dieses Krankheitsbildes auf dem gleitenden Spektrum zwischen den neurotischen und psychotischen Persönlichkeits-Störungen sehr unterschiedlich, im schwerwiegendsten Fall unterscheidet sich der Borderline-Patient in den durch den ISTA gemessenen zentralen Humanfunktionen aufgrund seines zersplitterten Ichs nur unwesentlich von den Defiziten eines psychotisch strukturierten Patienten, vor allem wenn seine kompensatorisch eingesetzten sekundären Ich-Funktionen (Fertigkeiten und Fähigkeiten etc.) zusammengebrochen sind. Der Borderline-Kranke leidet nach Ammon (Ammon 1976, 1979b, 1984,1987) vor allem an einer zentralen Störung der Identität mit Störungen in fast allen zentralen Humanfunktionen. Aufgrund der spezifisch destruktiv-defizitären Primärgruppendynamik in der präödipalen Entwicklungszeit werden die genannten Funktionen überwiegend destruktiv und defizitär entwickelt sein. Die Humanfunktion der Aggression wird sich wechselnd zwischen den drei Qualitäten konstruktiv, destruktiv und defizitär zeigen: Konstruktiv entsprechend dem Begabungspotential des sekundären Humanfunktionen, destruktiv im Sinne häufiger Kontaktabbrüche und fehlender Kontinuität, defizitär im Fehlen von Standpunkt und Auseinandersetzungsfähigkeit. Ich-Abgrenzung kann sowohl nach außen als auch innen schwanken zwischen rigider, überkontrollierter Geschlossenheit, aber auch psychosenahen Zuständen bis hin zur Ich-Auflösung. Im Bereich der Angst wechseln sich häufig destruktive (z.B. nächtliche Panikattacken) mit defizitären Qualitäten ab, wenn die Person sich durch sekundäres Funktionieren abgesichert fühlt. (Ammon, Burbiel, Finke, Wagner, In: Ammon (Hrsg.) 1982). Die Qualität der Sexualität wird aufgrund der fehlen- den Beziehungsfähigkeit des Borderline-Patienten überwiegend destruktiv ausgeprägt sein im Sinne destruktiven Ausagierens, häufiger Kontaktabbrüche bis hin zur Promiskuität. Die besonderen Zusammenhänge zwischen den Humanfunktionen der Abgrenzung und des Narzissmus bei der Borderline-Persönlichkeit wurden von Burbiel, Finke und Sandermann (1994) empirisch genauer untersucht. Verglichen mit anderen Strukturen ist beim Borderline-Patienten meist das Ausmaß an destruktiver Aggression erhöht, die Angst häufig „ungespürt“, d.h. defizitär, was sich im destruktiven Ausagieren bemerkbar macht. Große Unterschiede bestehen bei Borderline-Patienten hinsichtlich ihrer Realitätstüchtigkeit und der Fähigkeit, sekundäre Ich-Funktionen kompensatorisch einzusetzen, um eine Adaptation an die Realität zu ermöglichen, häufig ist eine Differentialdiagnose zur psychotischen Struktur nur über die sekundären Ich-Funktionen möglich. Aufgrund der Zersplitterung und der Abhängigkeit von der aktuellen Gruppensituation zeigt der Borderline-Patient in allen Humanfunktionen uneinheitliche Ergebnisse, d.h. die Streuung ist innerhalb dieser Diagnosegruppe höher als in Vergleichsgruppen. Als Gesamtgruppe werden sich aufgrund der größeren Streuung dieser Gruppe die Unterschiede herausmitteln, so dass sich für eine Gruppe von Klinikpatienten (N(BI-Ptn) = 61, N (Psychot. Str) = 29)bislang statistisch gesicherte Unterschiede nur für die defizitäre Abgrenzung nach innen und die defizitäre Sexualität nachweisen lassen (siehe empirischer Teil).

  4. Bei der Depression wird in der Dynamischen Psychiatrie zwischen Depression als Symptom (Neurotische Depression) und Depression als Struktur unterschieden und diese dann als „narzisstische depressive Struktur“ (entsprechend ICD 10: F 32.2 bis 32.9 und F 33.2 bis 33.9) bezeichnet. Bei letzterer sind die zentralen Humanfunktionen insgesamt sehr viel schwerer gestört als beim Borderline-Patienten, wobei die eklatanteste Auffälligkeiten in den hohen Defiziten und im weitgehenden Fehlen von konstruktiven Aggression liegt. Auch die konstruktive Angst-Toleranz liegt beim Borderline-Patienten in der Regel höher. Die Abgrenzung nach außen ist bei der narzisstisch depressiven Struktur meist defizitär oder — im Gegensatz zum Borderline-Patienten starr geschlossen. Die Abgrenzung nach innen ist ebenfalls häufig starr geschlossen, die Skalen des Narzissmus entweder überwiegend defizitär oder destruktiv, womit eine Annahme von Sozialenergie und damit die Möglichkeit der Veränderung erschwert wird. Die insgesamt defizitäre Identität und Aggression äußert sich in „Nicht-Reagieren, Nicht-Wahrnehmen, Nicht-Handeln, innere Leere, Beziehungslosigkeit und Unfähigkeit zur Kontaktaufnahme“ (a.a.O, S. 588). Die destruktive Abgrenzung nach innen zeigt sich im Fehlen von Bedürfnissen, Träumen und Phantasien, dem Mangel an innerer Orientierung sowie einem fehlenden Bezug zum eigenen Unbewussten (Ammon 1976).

  5. Die schizophrene bzw. psychotische Struktur (entspr. ICD 10: F 20.0 bis 20.9) ist ebenfalls durch eine schwere Schädigung aller zentralen Humanfunktionen gekennzeichnet, vor allem der Abgrenzung nach innen, aber auch die nach außen ist in der Regel hoch defizitär, da diese Menschen nie eine Abgrenzung und damit die Möglichkeit von Strukturaufbau erhalten haben. Im Unterschied zum Borderline-Patienten, dessen Angst häufig defizitär und damit ungespürt ist, ist die Angst des psychotisch strukturierten Patienten meist hoch destruktiv, d.h. sie wird von ihm gespürt, verbietet ihm aber aufgrund ihres überflutenden Charakters und aufgrund seines tiefen Misstrauens jegliches konkrete Handeln und/oder lebensnotwendige Beziehungs- und Kontaktaufnahme. Da der psychotisch strukturierte Mensch nie die Möglichkeit hatte, eigene Bedürfnisse zu entwickeln, zu äußern und zu vertreten - alle seine konstruktiven Lebensäußerungen wurden von der Primärgruppe aggressiv zurückgeschlagen — zeichnet er sich in der Humanfunktion der Aggression durch ein hohes Potential defizitärer und im therapeutischen Verlauf später auch destruktiver Aggression aus. Generell verfügt der psychotisch strukturierte Patient aufgrund der lebensgeschichtlich erfahrenen Destruktion über mehr psychische Energie, die allerdings ungerichteter ist, als der narzisstisch Depressive — er zeigt deshalb auch höhere Werte in der destruktiven Aggression, wohingegen bei der narzisstisch depressiven Struktur eher die emotionale Leere und damit das Defizit im Vordergrund stehen.