Ich-Struktur-Test Handbuch

Kapitel 1: Theoretische Grundlagen

Günter Ammon, Gisela Finke, Gerhard Wolfrum

1 Theoretische Grundlagen

Anliegen der Dynamischen Psychiatrie, deren Wurzeln in der amerikanischen Dynamic Psychiatry liegen und die verbunden ist mit Namen wie Harry Stuck Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann und besonders Karl Menninger, ist es, Konzepte und Methoden von Psychoanalyse, Psychiatrie und Gruppendynamik zu integrieren und weiterzuentwickeln. Weitere Wurzeln liegen in der Freudianischen Psychoanalyse mit den Konzepten von Übertragung, Widerstand und der Vorstellung eines Unbewussten, des weiteren in der Ich-Psychologie mit den Begriffen der konfliktfreien Sphäre des Ich, in den Ansätzen der Objektschule sowie dem systemtheoretischen und gruppendynamischen Denken. Mit der Neudefinition der Aggression als einer konstruktiven und kreativen Kraft löste sich Ammon vom Freudianischen Triebverständnis und entwickelte eine eigene theoretische Konzeption. Die Aggression wird — wie Maria Ammon (1997a) schreibt — zur Ich-Funktion und ihre Entwicklung in einen gruppendynamischen Zusammenhang gebracht: Die nach seiner Auffassung jedem Menschen ursprünglich gegebene konstruktive Aggression wird lebensgeschichtlich erst durch spezifische destruktive Gruppendynamiken zu dem, was gemeinhin unter Aggression im Sinne einer zerstörerischen Kraft verstanden wird (Ammon 1970). Die Aggression als Prinzip einer primären Umweltgerichtetheit und Offenheit des Menschen, als neugierigem Herangehen an Dinge und Menschen wird so zu einem zentralen Moment in der Entwicklung der Persönlichkeit, deren Wachstum in Gesundheit wie Krankheit entscheidend von der Qualität des umgebenden gruppendynamischen Feldes abhängt. Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsaufbau sind damit gebunden an die Entfaltung konstruktiver Aggression im Sinne eines kreativen adgredi, wozu auch die schuldfreie Ablösung und Abgrenzung aus der Zeit der frühkindlichen Symbiose in der Primärgruppe gehört (vgl. Ammon, M. 1997a).

Anders als bei Freud wird das Unbewusste bei Ammon als ein Ort der kreativen Kräfte des Menschen definiert, als „das Potential der wachsenden und gewachsenen Ich-Funktionen der Persönlichkeit“, also der Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen schlechthin (Ammon 1978). In Verbindung mit der Neudefinition des Unbewussten als kreativem Potential und dem neuen Aggressions- und Kreativitätsverständnis entwickelt Ammon ein eigenes Persönlichkeitsmodell, das er als „Humanstrukturmodell“ 1976 veröffentlichte.

1.1 Das Humanstrukturmodell

Die Persönlichkeits-Struktur eines Menschen wird bei Ammon „Ich-Struktur“ bzw. mittlerweile „Human-Struktur“ genannt (Ammon 1973, 1976, 1979a, 1979b, 1982, 1985a, 1989, 1991, Ammon, M. 1996, 1997a, Burbiel 1997a) — in Abgrenzung zur Ich-Psychologie auf triebtheoretischer Basis (Hartmann 1939, 1964, Hartmann, Kris, Loewenstein 1946). Der Begriff der Humanstruktur grenzt sich von dem von den Ich-Psychologen verwandten Freudianischen Strukturbegriff ab und definiert die Humanstruktur als eine ganzheitliche und mehrdimensionale Struktur, deren Elemente die Humanfunktionen darstellen. Diese Funktionen sind nicht zu verstehen als einmal festgelegte Einheiten, sondern als primär gegebene menschliche Möglichkeiten und Dimensionen. Sie stehen in synergistischem, sich wechselseitig regulierendem und dynamischem Zusammenhang und werden drei verschiedenen Substrukturen der Persönlichkeit zugeordnet: Den primären, zentralen und sekundären Teilbereichen der Persönlichkeit.

Die primären Humanfunktionen umfassen die gesamten körperlich-biologischen und neurologischen Funktionen des Menschen.

Modellvorstellung der Humanstruktur mit Meßbereichen des ISTA:

Art der Humanfunktion Beschreibung
Sekundäre Humanfunktionen: Fähigkeiten, Fertigkeiten, Verhalten überwiegend bewusst
Zentrale Humanfunktionen: überwiegend unbewusst
Agression, Angst, Abgrenzung, Narzissmus, Sexualität Vom ISTA erfasste Humanfunktionen
Kreativität, Frustrationstoleranz, Körper-Ich, Identität, Androgynität, Traumhaftigkeit, usw. Weitere, vom ISTA noch nicht erfasste Humanfunktionen
Primäre Humanfunktionen: Körperlich-biologischer Bereich

Den Kern der Persönlichkeit bilden die zentralen Humanfunktionen, sie regulieren grundlegend die Humanstruktur als ganze als auch die Umweltbeziehungen eines Menschen. Ammon spricht von ihnen als „komplexen integrierten psychologischen Einheiten“ (Ammon 1979), die im Unbewussten ange- siedelt sind und in ihrer Ausprägung konstruktive, destruktive und defizitäre Qualitäten annehmen können. Zu den wichtigsten zählen beispielsweise die Aggression als primär gegebenem Aktivitäts-Potential, die Angst als notwendiger Voraussetzung zur Realitätsbewältigung, der Narzissmus als Fähigkeit mit sich selbst und anderen freundlich umzugehen, die Abgrenzung als primäre Beziehungsregulation des Menschen zu umgebenden Gruppen und zu verinnerlichten Beziehungsdynamiken, die Sexualität als primär und konfliktfrei gegebenem Potential zu Beziehungs- und Liebesfähigkeit.

Zu den sekundären Humanfunktionen gehören die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Intelligenz, Sprache und das Verhalten eines Menschen; sie werden eher dem Bereich des Bewussten zugerechnet.

Alle Humanfunktionen sind synergistisch miteinander verwoben und entwickeln sich in Abhängigkeit von der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen („sozialenergetisch-gruppen- dynamisches Feld“) konstruktiv, destruktiv oder defizitär. Diese Beziehungsprozesse werden in der frühen Kindheit verinnerlicht und bestimmen im wesentlichen die Struktur des Unbewussten (Ammon 1995). Je nachdem, ob ein Mensch in seinen Gruppen gefördert, behindert oder vernachlässigt wurde, nimmt die Entwicklung der Humanfunktionen einen konstruktiven, destruktiven oder defizitären Verlauf (Burbiel 1997, Hochmuth 1992). In ihrer konstruktiven Ausprägung haben die Humanfunktionen eine regulative, in ihrer destruktiven und defizitären eine eher dysregulative Wirkung.

Der ISTA wurde als ein Testinstrument entwickelt, welches Gültigkeit haben soll sowohl für die Erfassung psychisch auffälliger Bereiche als auch der gesunden, konstruktiv entwickelten Seiten eines Menschen. Dabei wird versucht, das vorherrschende statische Denken in Kategorien von „krank“ und „gesund“ aufzuheben zugunsten eines Verständnisses von der Persönlichkeitsstruktur sowie eines dynamischen und prozessualen Denkens im Sinne der Veränderbarkeit und Entwicklungsfähigkeit der psychischen Struktur eines Menschen.

Erste grundsätzliche Überlegungen zur Konstruktion eines solchen Verfahrens erfol gten im Rahmen der Diskussion um ein neues strukturelles Verständnis des Krankheitsbildes des Borderline-Syndroms (Ammon 1976, 1979a). Dabei entstand das Anliegen, die schillernde Vielfalt dieses Krankheitsbildes in der Tiefe besser zu verstehen und sowohl eine bessere Modellvorstellung als auch ein Meßinstrument zur Verfügung zu haben, welches die Besonderheiten dieses Krankheitssyndroms strukturell erfassen kann. Dementsprechend sollte der zu entwickelnde Test vor allem zentrale Ich-Funktionen, wie z.B. die Aggression, Angst, Kreativität, Sexualität, Ich-Regulation oder Frustrationstoleranz erfassen.

1.2 Sozialenergie, Entwicklungsverständnis und Menschenbild

Grundlage der dem Test zugrunde liegenden Persönlichkeitstheorie ist ein Verständnis von menschlicher Entwicklung, das auf der Konzeption einer zwischenmenschlichen psychischen Energie basiert - sie wird bei Ammon „Sozialenergie“ genannt (Ammon 1982, 1983). Mit dieser Sozialenergie- Konzeption als einem eigenen gruppendynamisch-psycho-dynamischen Energieverständnis trennt sich Ammon vom triebbestimmten biologischen Konzept der Freudianischen Libidotheorie (Freud 1905, 1920, 1938). Er versteht unter der Sozialenergie eine Kraft, die immer in Kontakt zwischen Menschen entsteht und deren Qualität abhängt von der jeweiligen unbewussten Gruppendynamik: „Sozialenergie entsteht durch Kontakt, Auseinandersetzung, Geborgenheit, Verläßlichkeit, Liebe und auch Forderung zum Tätigsein und Forderungen an die Identität ... und sie findet ihren Niederschlag in allen Bereichen der Humanstruktur“ (Ammon 1982). Auch die Bindungsforschung weist auf die Bedeutung der frühen Beziehungserfahrungen für die menschliche Entwicklung hin (vgl. Bowlby 1969, 1973, Dornes 1993, Grossmann et al. 1989), allerdings betont Ammon sehr viel stärker die unbewusste Dimension und den Feldaspekt seiner Konzeption. Je nachdem, wie der gruppendynamische Raum zwischenmenschlich gestaltet ist, kann das sozialenergetische Feld konstruktiv, destruktiv oder defizitär ausgeprägt sein und dementsprechend in die Persönlichkeit integriert werden.

Konstruktive Sozialenergie beinhaltet, Verständnis und Interesse für den anderen Menschen zu entwickeln, sich mit ihm auseinanderzusetzen, ihn ernst zu nehmen und zu fordern. Destruktive Sozialenergie zeigt sich durch offene Destruktion unter Menschen, Verbote, Lebenseinengungen, Bestrafungen, Beschimpfungen und Zwänge aller Art und impliziert wenigstens noch einen gewissen, wenn auch verstümmelten Mitteilungscharakter. Defizitäre Sozialenergie zeigt sich in fehlendem Interesse und fehlendem Verständnis für den anderen, „defizitäre Sozialenergie ist verweigerte Sozialenergie, das Ignorieren von Menschen“ (Ammon 1986). Sozialenergie ist also die Energie, die Persönlichkeitsaufbau bewirkt, dementsprechend kann Persönlichkeitsstruktur als manifestierte Sozialenergie betrachtet werden.

Menschliche Entwicklung wird bei Ammon gesehen als ein lebenslanger Prozess, der an interpersonelle, kreative und damit „sozialenergetische Austauschprozesse“ gebunden ist und wird verstanden als wachsende Erweiterung der Persönlichkeits-Struktur mit ihren bewussten, unbewussten und neurophysiologischen Anteilen. Hierbei sind das implizit vermittelte Menschenbild, die Wertsetzungen einer Gruppe wichtig, das, was in den ersten Lebensgruppen als konstruktiv, d.h. entwicklungsfördernd empfunden wird und das, was in der jeweiligen Gruppe als erstrebenswert und vorbildhaft gilt sowie auch, wieviel Raum, Zeit, Echtheit im Kontakt, innere Ruhe und Gelassenheit von den Bezugspersonen vermittelt werden. Das Umgehen mit Arbeit, mit Zeit, mit Kontakten und Freunden, Ideen, Aufgaben, Interessen etc. kann in spezifischer Weise konstruktiv vermittelt und gefördert werden, es kann aber auch gehemmt oder verweigert werden und damit zu Arretierungen oder Erfahrungsdefiziten in der Persönlichkeit führen, d.h. die unbewusste Gruppendynamik der Primärgruppe reguliert Ausmaß und Qualität zwischenmenschlicher psychischer Energie.

Die Ich-Struktur des sich entwickelnden Kindes stellt eine repräsentative Abbildung der gesamten emotionalen Gestimmtheit der umgebenden Gruppe, eine Abbildung der jeweils spezifischen Familiendynamik, der Qualität der Beziehungen zu den frühen relevanten Bezugspersonen und der jeweiligen Atmosphäre dar. Der Prozess der Vermittlung von Sozialenergie zwischen Kind, Mutter und umgebender Gruppe verläuft dabei weitgehend auf der Ebene des Unbewussten und zwar um so unmittelbarer, je jünger das Kind ist. Für die Entwicklung der Ich-Struktur ist besonders das Beziehungsfeld der früheren Kindheit von Bedeutung, generell jedoch ist Entwicklung, d.h. der Aufbau von Ich- bzw. Human-Struktur ein lebenslanger Prozess von Differenzierung und Integration — eın Verständnis, welches entsprechende Konsequenzen für therapeutische und diagnostische Prozesse nach sich zieht.

Grundlegend in Ammons Humanstrukturologie ist das zugrunde liegende Menschenbild, ein mehrdimensionales, ganzheitliches Menschenbild, in dem Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden. Der Mensch wird als ein Gruppenwesen mit dem Bedürfnis nach Identität, Selbstverwirklichung und Sinnfindung im Leben verstanden. „Ich gehe aus von einem Verständnis des Menschen, der lebt mit dem wesentlichen und bedeutsamen Anliegen, nach eigener Identität zu ringen, sich selbst zu erleben mit und durch andere, sich auszudrücken in Gruppen, sich zu entwickeln im Kontakt und in Auseinandersetzung mit dem anderen in der Gruppe“ (Ammon 1986, S. 88). Der Mensch ist von Geburt an mit konstruktiver Aggression ausgestattet „im Sinne des adgredi, des Herangehens an Dinge und Menschen ... als Vehikel allen menschlichen, liebenden und schöpferischen Tuns“. „Adgredi ermöglicht Leistung, Liebe und damit Selbstverwirklichung“ (Ammon 1970). An diesem explizit positiv formulierten Menschenbild sind Theorieentwicklung, Prophylaxe, Diagnostik und die therapeutische Herangehensweise an den Menschen orientiert.

Psychische Krankheit wird verstanden als „nicht gelungener Befreiungsversuch durch Depression, Psychosomatik, destruktive Aggression und destruktive Sexualität bis hin zu psychotischem Reagieren und Flucht in Alkoholismus und Drogen; eine Mehrdimensionalität destruktiver Flucht- und Befreiungsversuche aus nicht bewusster und unerträglich gewordener Einengung“ (Ammon 1986). Krankheit wird hier immer als eine Reaktions-Möglichkeit des Menschen gesehen, als zeitweiliger Verlust des Gleichgewichtes von Körper, Seele und Geist, als Einengung der Mehrdimensionalität des Menschen auf wenige Lebensdimensionen und als Desintegration der Humanfunktionen mit defizitären und destruktiven Ausprägungen. An anderer Stelle hat er das strukturelle Defizit bzw. die unentwickelten oder unintegrierten Bereiche der Humanstruktur (im Sinne einer realen Schädigung wie z.B. bei der Schizophrenie) als „Loch im Ich“ beschrieben (Ammon 1974). Humanstrukturell gesehen wurde damit ein unitäres Krankheitsverständnis postuliert, d.h. alle schweren präödipalen psychischen Erkrankungen zeigen ein Defizit in der Humanstruktur, das mit unterschiedlicher Symptomatik gefüllt sein kann.

Ammons Gesundheitsbegriff führt zu einem dynamischen und prozesshaften Gesundheitsverständnis, das den Menschen als einen Werdenden begreift, der seine Identität immer wieder neu gestaltet im Hinblick auf neue Entwicklungsmöglichkeiten. „Unter gesunder Entwicklung versteht Ammon die Möglichkeit, entwicklungsfähig zu bleiben, Sozialenergie anzunehmen und in Human-Struktur um- zuwandeln und wieder in die Gruppe geben zu können. Strukturell äußert sich dies in einer vorwiegend konstruktiv verlaufenden Human (Ich-)-Strukturentwicklung eines Menschen“ (Burbiel et al. 1992). Gesundung eines psychisch kranken Menschen kann dementsprechend als eine Entwicklung von Struktur verstanden werden, die schließlich krankmachende Erfahrungen als nicht mehr bedeutsam erscheinen lässt bzw. aufhebt (Burbiel et al. 1990, 1992, 1994). Hier liegen die Konsequenzen für die Therapie und die Notwendigkeiten einer differenzierten psychodiagnostischen Erfassung des Entwicklungsstandes der Humanstruktur eines Menschen.

In Ammons Human-Struktur-Modell werden Krankheit und Gesundheit immer als ein prozesshaftes Geschehen verstanden, das auf einem gleitenden Spektrum angeordnet und veränderbar ist. Gesundheit wird als Ausdruck der Humanfunktionen hin zu konstruktiven, lebensbejahenden Möglichkeiten verstanden, Krankheit als Entwicklungs-Arretierung, d.h. als destruktiv, beziehungs- und kontakteinengend und zerstörend oder als defizitär im Sinne von nichtentwickelt. Im Sinne dieses Verständnisses von Entwicklung und Veränderung sind in Ammons Konzeption die Humanfunktionen synergistisch untereinander verbunden: Als dynamisches, nicht geschlossenes System stehen sie sowohl untereinander als auch mit der Umgebung in wechselseitigem Austausch. “Das Humansystem ist nach außen zu den Feldern der zwischenmenschlichen Beziehungen hin flexibel geöffnet, so dass über sozial-energetische Austauschprozesse Persönlichkeitsstrukturaufbau und - veränderung möglich sind“ (Burbiel et al. 1992).

Die Human-Struktur eines Menschen ist in Ammons Verständnis somit Ergebnis aller verinnerlichten bewussten und unbewussten Beziehungserfahrungen in Gruppen. Je beziehungs- und auseinandersetzungsfähiger eine Gruppe ist, desto mehr Sozialenergie kann der einzelne als Human-Struktur verinnerlichen und für sich und andere verfügbar machen (Burbiel & Vogelbusch 1981). Ammon geht davon aus, dass der Mensch ein ungeahntes Maß an Potentialitäten hat — d.h. die nicht von Sozialenergie betroffenen Anteile stellen die nicht erschöpften und noch nicht geahnten und entwickelten Dimensionen des Unbewussten dar.

1.3 Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung von Humanstruktur

Quantifizierung des Psychischen ist ein Anliegen, um das sich bereits Freud bemühte (Freud 1938). Aufgrund seines Energie-Quantum-Theorems waren dem jedoch enge Grenzen gesetzt: Als intrapsychisches System mit verdrängten Inhalten ohne Struktur lässt sich das Freudsche Unbewusste nicht in Größer-Kleiner-Relationen als notwendiger Voraussetzung für Quantifizierung darstellen. Bei Ammon stellt das Unbewusste einen Beziehungsniederschlag dar, „der sich in jeder aktuellen Interaktion, z.B. in gruppentherapeutischen und anderen Gruppen in unterschiedlicher Ausprägung wiederentdecken lässt“. Da sich das Unbewusste im äußeren Erleben und Verhalten durch die sekundären Humanfunk- tionen vermittelt, ist eine Voraussetzung für den Rückschluß auf die Struktur der Unbewussten gegeben. Die Fragen des Ich-Struktur-Tests nach Ammon sollen beim Probanden gruppendynamische Situationen aktualisieren, in denen die unbewusste Humanstruktur die Selbsteinschätzung seines vorgestellten Verhaltens beeinflußt. „Die Testwerte können als Beziehungswerte verstanden werden, die sich theoretisch auf einem Spektrum zwischen Primärgruppendynamik und aktueller realer Gruppendynamik bewegen“ (Burbiel & Vogelbusch 1981, S. 23). Die Testaussagen des Probanden müssen dabei als Kommunikation über sich selbst und seine aktuelle gruppendynamische Befindlichkeit verstanden werden.

Es entspricht in der klinischen Testpsychologie einem gängigen Modell, vorrangig nach pathologischen Ausprägungen des Verhaltens und Erlebens zu suchen. Die Beschreibung von Abweichungen vom normierten Mittelwert trägt dann zur Diagnose bei bzw. beinhaltet sie. Da gesunde Anteile einer Persön- lichkeit nicht behandlungsbedürftig sind, werden sie in der Regel nicht erfasst. Dies führt dazu, dass psychisch kranke Personen mit einer anderen Taxonomie als psychisch gesunde Menschen beschrieben werden. Im Verständnis der Dynamischen Psychiatrie jedoch besteht zwischen „gesund“ und „krank“ kein qualitativer Sprung; Gesundheit und Krankheit bilden Punkte auf einem gleitenden Spektrum (vgl. Ammon 1979a, 1979b, 1982). Ein Mensch ist psychisch um so kränker, je mehr Anteile seiner Person geschädigt sind und um so tiefgreifender solche Schäden sind. Auch der psychisch Kränkeste verfügt jedoch über gesunde Persönlichkeitsanteile, da er sonst nicht überlebensfähig wäre. Die Humanstrukturologie beschreibt solche gesunden Anteile der Person als „konstruktiv“, kranke Anteile als „destruktiv“ verformt, d.h. fehlentwickelt bzw. arretiert in der Entwicklung und/oder „defizitär“, d.h. nicht entwickelt.

Für die Diagnose, Prognose und die Entwicklung einer geeigneten therapeutischen Strategie ist es von großer Bedeutung, nicht nur die destruktiven und defizitären Ausprägungen zu erfassen, sondern gerade auch die konstruktiven, gesunden Anteile. Dabei reicht es nicht aus, auf konstruktive Anteile lediglich indirekt aus dem Fehlen von spezifischen Symptomen oder pathologischen Erscheinungen zu schließen, vielmehr muß das Gesunde konkret definiert werden.

Im therapeutischen Bereich ermöglichen die gesunden Anteile eines Menschen ein therapeutisches Bündnis im Sinne einer „nachholenden Ich-Entwicklung“, sie sind deshalb von großer prognostischer Relevanz. Die Dynamischen Psychiatrie versucht als verstehende Psychiatrie sowohl den Menschen als Person im eigenen Recht zu sehen als auch sich auf die vorhandenen gesunden Möglichkeiten zu stützen. Zentrales Moment in der Therapie sind daher die Verbündung mit den gesunden Seiten einer Persönlichkeit sowie die Arbeit an der Humanstruktur selbst: Im Sinne einer Identitätstherapie muß der Mensch in seinem Kern verstanden und erreicht werden, vorhandene konstruktive Persönlichkeitsanteile werden als Identitätsangebote verstanden, destruktive und defizitäre Perönlichkeitsanteile im Sinne einer „nachholenden Ich-Entwicklung“ (Ammon 1979a, 1980) zu konstruktiven Möglichkeiten der Identität entwickelt (Ammon 1978). Dementsprechend ist es auch die Aufgabe einer humanstrukturellen Diagnostik, möglichst differenziert den momentanen Entwicklungsstand eines Menschen in seinen konstruktiven, destruktiven und defizitären Qualitäten zu beschreiben, d.h. eine Entwicklungsdiagnostik zu ermöglichen (Burbiel et al. 1990, 1992, 1993, 1994, Burbiel 1997a, 1997b).